Mit einer guten Diagnose ist es das gleiche wie in Übung 1: Perspektivwechsel. Nur ein Blick von jeder möglichen Seite auf jeden möglichen Hintergrund ermöglicht es, eine konkrete Schlussfolgerungen zu ziehen, eine genaue Bewertung zu ermöglichen und ein Unterstützungsprogramm auf deren Grundlage zu erstellen. Nun, der Hintergrund jedes untersuchten Kindes ist jeder, der in irgendeiner Weise an seiner Entwicklung beteiligt ist. Sie schaffen ein Mosaik der gegenseitigen Abhängigkeit in der Wahrnehmung und Analyse der Welt durch das Kind (Diagnostik für Integrative Pädagogik von Ines Boban & Andreas Hinz). Sie sind ein wesentlicher Bestandteil, der zur richtigen Diagnose nicht übersehen werden darf.
Der Perspektivenwechsel welcher hier beschrieben wird, ist ein sehr gutes Beispiel, wenn es darum geht wie man seine Diagnose überprüfen kann. Dies wird oben sehr sinnvoll und logisch aufzeigt. So widerlegt oder stützt er eine Diagnose und macht das Ergebnis an sich effektiver.
Auch bei der kindlichen Entwicklung ist es sehr wichtig Dinge aus der Perspektive des Erziehenden* und der zu Erziehenden* zu betrachten. Die Empathie wird geschult, und ein besonderes Verständnis für die Bedürfnisse des Individuums werden erkennbar. Die Literatur zu dem Thema finde ich sehr zäh. Die Begriffe und Sprache sind sehr fremd gehalten in einem älteren Stil.
Unlängst hatte ich mein erstes Diagnose-Erlebnis. Ich habe begonnen, mit meinem 4 jährigen Sohn Fahrradfahren zu üben und dass er mir auf Fahrradwegen hinterherfährt. Seine Altersgenossen aus dem Kindergarten sind darin teils schon erstaunlich routiniert und ich dachte, wir sollten auch einmal damit beginnen. Nun stellte sich heraus, dass mein Sohn sich einfach nicht so konzentrierte und lieber Schlangenlinien fuhr und viele Sachen während des Fahrens interessanter fand als geradeaus zu schauen und die anderen Fahrradfahrer zu beachten (sehr zu deren Missfallen).
Als ich seiner Bezugserzieherin davon erzählte fing sie sogleich an: Man könne einmal über Ergotherapie nachdenken oder zum Osteopathen. Denn auch ihr sei aufgefallen, dass er beim Gehen seinen Kopf schief halte. Das hat mich als Mutter wahnsinnig verunsichert, da ich hinter seinen “funny walks” eher etwas sah, das er wohl lustig fand und das schlenkernde Radfahren als Ausdruck, dass er einfach noch nicht soweit war (weil er auch sehr verträumt ist).
Ich fand den Kommentar zutiefst verstörend und entschloss mich, das beim Kinderarzt abklären zu lassen. Dieser bestätigte sogleich, dass körperlich alles in Ordnung ist und auch sein Verhalten völlig altersentsprechend. Ich solle mir keine Sorgen machen.
Hier wurde also von der Erzieherin ein vermeintlicher Durchschnitt als Maß genommen, um irgendwelche “Auffälligkeiten” auszumachen und bereits Therapieansätze dagegen zu finden. Anstatt den Grund im Wesen des Kindes zu suchen und den auch zu respektieren. Ich mache ihr daraus keinen Vorwurf. Vielmehr hatte ich das Gefühl, es wird vielleicht auch von ihr verlangt mögliche “Lösungen” vorzuschlagen.
Ich glaube, wir gehen mit Menschen in unserer Gesellschaft oft auf diese, Weise um – leider. Leistung bedeutet bei uns doch oft einfach nur Produktivität oder einer “Norm” zu entsprechen. Ist man das nicht, versucht man zu “optimieren” und “Lösungen” zu finden.
Auch im Zuge der Nachhaltigkeitsdebattefinde ich, wäre es an der Zeit zu einem veränderten Verständnis vom Menschsein zu kommen, wie es auch hier im Text skizziert wird.
Ich fand den Kommentar von Fr. Leusch sehr interessant und finde es beunruhigend, wie oft heutzutage irgendwelche “Laien” voreilig Diagnosen stellen. Das Kind hat einer gewissen, von der Gesellschaft vorgegebenen Norm zu entsprechen und tut es dies nicht ist es direkt verhaltensauffällig und muss therapiert werden. In diesem Fall sind es die “funny walks” und das schlenkerhafte Fahrradfahren. Aber warum darf ein Kind denn nicht Kind sein und solange es nicht sich selbst oder auch andere nicht gefährdet, für das Kind als spaßig empfundene Kurven/Schlenker mit dem Fahrrad fahren? Ich finde es wirklich sehr beeunruhigend wie voreilig und völlig fachfrei hier eine Diagnose gestellt bzw. sogar ein therapeutischer Ansatz vorgeschlagen wurde. In diesem Kontext muss ich auch direkt an ADHS/ADS denken. Vor einigen Jahrzehnten noch als “Zappelphillip” abgestempelt hat das Ganze in der Moderne nun exorbitante Ausmaße angenommen und ist förmlich zu einer Volkskrankheit geworden. Kinder und Jugendliche werden mit Drogen vollgepumpt und “stillgelegt”. Sicherlich ist ADHS/ADS eine Krankheit und auch ernstzunehmen. Jedoch finde ich es auch hier beunruhigend wie vorschnell Ärzte die Kinder/Jugendlichen diagnostizieren und sie mit Ritalin etc.pp. vollpumpen, anstatt sich genauer mit dem ganz individuellen Wesen des Kindes auseinanderzusetzen und vielleicht auch andere Lösungen zu finden, bzw. bei mittelschweren/leichten Fällen von z.B. ADHS das Kind einfach Kind sein lassen und auf eine medikamentöse Behandlung gänzlich zu verzichten.
Meiner Meinung nach machen viele sogenannte Diagnostiker den Fehler, sich mit vorschnellen Urteilen und schlimmer noch, mit vorschnellen sogenannten Lösungen (wie zB Medikamenten), das Leben zu einfach machen zu wollen. Nach der Manier: Ich habe ein Werkstück, ich schnippele ein bißchen dran rum, zack fertig, weiter zum nächsten.
Wir haben es hier mit Menschen zu tun. Ein paarmal genauer hinzusehen und ja, auch mal die Perspektive zu wechseln lohnt sich auf jeden Fall. In diesem Sinne war es ein Meisterstreich, die Übung mit dem Perspektivwechsel vornanzustellen.
Ich stimme Matthias Bohme zu, wenn er schreibt: “Wir haben es mit Menschen zu tun.” Ein Perspektivwechsel lohnt sich auf jeden Fall. Auch ist der Mensch keine Maschine, die jeden Tag gleich funktioniert. Im Laufe des Tages macht der Mensch Erfahrungen und hat verschiedene Begegnungen. All diese verändern die jeweils momentane (Gemüts-)Verfassung. Ein Mensch kann einen Tag fröhlich und einen Tag – oft sogar am selben Tag zu einer anderen Zeit – traurig oder sauer sein. In dem Moment, in dem man mit einem Menschen zu tun hat, ist es nur eine Momentaufnahme, die an einem anderen Tag anders aussehen kann, je nachdem, was dem Anderen bis dahin widerfahren ist. Daher ist es wichtig, einen Perspektivwechsel zu vollziehen und auch verschiedene Hintergründe bei der Diagnose in Betracht zu ziehen (und auch mal nach der Ursache für ein bestimmtes Verhalten zu suchen und den Menschen nicht einfach in eine bestimmte Schublade zu stecken – und ihn darin lassen).
Der etymologische Sinn des Wortes “Diagnose” (=durch und durch erkennen), sollte nicht nur den Ursprung beschreiben, sondern stets unser Konzept von Diagnose sein. Sehr berührend und hoffentlich bald überall auch wirklich bezeichnend für Diagnostik.
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Mit einer guten Diagnose ist es das gleiche wie in Übung 1: Perspektivwechsel. Nur ein Blick von jeder möglichen Seite auf jeden möglichen Hintergrund ermöglicht es, eine konkrete Schlussfolgerungen zu ziehen, eine genaue Bewertung zu ermöglichen und ein Unterstützungsprogramm auf deren Grundlage zu erstellen. Nun, der Hintergrund jedes untersuchten Kindes ist jeder, der in irgendeiner Weise an seiner Entwicklung beteiligt ist. Sie schaffen ein Mosaik der gegenseitigen Abhängigkeit in der Wahrnehmung und Analyse der Welt durch das Kind (Diagnostik für Integrative Pädagogik von Ines Boban & Andreas Hinz). Sie sind ein wesentlicher Bestandteil, der zur richtigen Diagnose nicht übersehen werden darf.
Der Perspektivenwechsel welcher hier beschrieben wird, ist ein sehr gutes Beispiel, wenn es darum geht wie man seine Diagnose überprüfen kann. Dies wird oben sehr sinnvoll und logisch aufzeigt. So widerlegt oder stützt er eine Diagnose und macht das Ergebnis an sich effektiver.
Auch bei der kindlichen Entwicklung ist es sehr wichtig Dinge aus der Perspektive des Erziehenden* und der zu Erziehenden* zu betrachten. Die Empathie wird geschult, und ein besonderes Verständnis für die Bedürfnisse des Individuums werden erkennbar. Die Literatur zu dem Thema finde ich sehr zäh. Die Begriffe und Sprache sind sehr fremd gehalten in einem älteren Stil.
Unlängst hatte ich mein erstes Diagnose-Erlebnis. Ich habe begonnen, mit meinem 4 jährigen Sohn Fahrradfahren zu üben und dass er mir auf Fahrradwegen hinterherfährt. Seine Altersgenossen aus dem Kindergarten sind darin teils schon erstaunlich routiniert und ich dachte, wir sollten auch einmal damit beginnen. Nun stellte sich heraus, dass mein Sohn sich einfach nicht so konzentrierte und lieber Schlangenlinien fuhr und viele Sachen während des Fahrens interessanter fand als geradeaus zu schauen und die anderen Fahrradfahrer zu beachten (sehr zu deren Missfallen).
Als ich seiner Bezugserzieherin davon erzählte fing sie sogleich an: Man könne einmal über Ergotherapie nachdenken oder zum Osteopathen. Denn auch ihr sei aufgefallen, dass er beim Gehen seinen Kopf schief halte. Das hat mich als Mutter wahnsinnig verunsichert, da ich hinter seinen “funny walks” eher etwas sah, das er wohl lustig fand und das schlenkernde Radfahren als Ausdruck, dass er einfach noch nicht soweit war (weil er auch sehr verträumt ist).
Ich fand den Kommentar zutiefst verstörend und entschloss mich, das beim Kinderarzt abklären zu lassen. Dieser bestätigte sogleich, dass körperlich alles in Ordnung ist und auch sein Verhalten völlig altersentsprechend. Ich solle mir keine Sorgen machen.
Hier wurde also von der Erzieherin ein vermeintlicher Durchschnitt als Maß genommen, um irgendwelche “Auffälligkeiten” auszumachen und bereits Therapieansätze dagegen zu finden. Anstatt den Grund im Wesen des Kindes zu suchen und den auch zu respektieren. Ich mache ihr daraus keinen Vorwurf. Vielmehr hatte ich das Gefühl, es wird vielleicht auch von ihr verlangt mögliche “Lösungen” vorzuschlagen.
Ich glaube, wir gehen mit Menschen in unserer Gesellschaft oft auf diese, Weise um – leider. Leistung bedeutet bei uns doch oft einfach nur Produktivität oder einer “Norm” zu entsprechen. Ist man das nicht, versucht man zu “optimieren” und “Lösungen” zu finden.
Auch im Zuge der Nachhaltigkeitsdebattefinde ich, wäre es an der Zeit zu einem veränderten Verständnis vom Menschsein zu kommen, wie es auch hier im Text skizziert wird.
Ich fand den Kommentar von Fr. Leusch sehr interessant und finde es beunruhigend, wie oft heutzutage irgendwelche “Laien” voreilig Diagnosen stellen. Das Kind hat einer gewissen, von der Gesellschaft vorgegebenen Norm zu entsprechen und tut es dies nicht ist es direkt verhaltensauffällig und muss therapiert werden. In diesem Fall sind es die “funny walks” und das schlenkerhafte Fahrradfahren. Aber warum darf ein Kind denn nicht Kind sein und solange es nicht sich selbst oder auch andere nicht gefährdet, für das Kind als spaßig empfundene Kurven/Schlenker mit dem Fahrrad fahren? Ich finde es wirklich sehr beeunruhigend wie voreilig und völlig fachfrei hier eine Diagnose gestellt bzw. sogar ein therapeutischer Ansatz vorgeschlagen wurde. In diesem Kontext muss ich auch direkt an ADHS/ADS denken. Vor einigen Jahrzehnten noch als “Zappelphillip” abgestempelt hat das Ganze in der Moderne nun exorbitante Ausmaße angenommen und ist förmlich zu einer Volkskrankheit geworden. Kinder und Jugendliche werden mit Drogen vollgepumpt und “stillgelegt”. Sicherlich ist ADHS/ADS eine Krankheit und auch ernstzunehmen. Jedoch finde ich es auch hier beunruhigend wie vorschnell Ärzte die Kinder/Jugendlichen diagnostizieren und sie mit Ritalin etc.pp. vollpumpen, anstatt sich genauer mit dem ganz individuellen Wesen des Kindes auseinanderzusetzen und vielleicht auch andere Lösungen zu finden, bzw. bei mittelschweren/leichten Fällen von z.B. ADHS das Kind einfach Kind sein lassen und auf eine medikamentöse Behandlung gänzlich zu verzichten.
Meiner Meinung nach machen viele sogenannte Diagnostiker den Fehler, sich mit vorschnellen Urteilen und schlimmer noch, mit vorschnellen sogenannten Lösungen (wie zB Medikamenten), das Leben zu einfach machen zu wollen. Nach der Manier: Ich habe ein Werkstück, ich schnippele ein bißchen dran rum, zack fertig, weiter zum nächsten.
Wir haben es hier mit Menschen zu tun. Ein paarmal genauer hinzusehen und ja, auch mal die Perspektive zu wechseln lohnt sich auf jeden Fall. In diesem Sinne war es ein Meisterstreich, die Übung mit dem Perspektivwechsel vornanzustellen.
Ich stimme Matthias Bohme zu, wenn er schreibt: “Wir haben es mit Menschen zu tun.” Ein Perspektivwechsel lohnt sich auf jeden Fall. Auch ist der Mensch keine Maschine, die jeden Tag gleich funktioniert. Im Laufe des Tages macht der Mensch Erfahrungen und hat verschiedene Begegnungen. All diese verändern die jeweils momentane (Gemüts-)Verfassung. Ein Mensch kann einen Tag fröhlich und einen Tag – oft sogar am selben Tag zu einer anderen Zeit – traurig oder sauer sein. In dem Moment, in dem man mit einem Menschen zu tun hat, ist es nur eine Momentaufnahme, die an einem anderen Tag anders aussehen kann, je nachdem, was dem Anderen bis dahin widerfahren ist. Daher ist es wichtig, einen Perspektivwechsel zu vollziehen und auch verschiedene Hintergründe bei der Diagnose in Betracht zu ziehen (und auch mal nach der Ursache für ein bestimmtes Verhalten zu suchen und den Menschen nicht einfach in eine bestimmte Schublade zu stecken – und ihn darin lassen).
Der etymologische Sinn des Wortes “Diagnose” (=durch und durch erkennen), sollte nicht nur den Ursprung beschreiben, sondern stets unser Konzept von Diagnose sein. Sehr berührend und hoffentlich bald überall auch wirklich bezeichnend für Diagnostik.